Unverzichtbar in der Krise

von | 22. Jul. 2020

Durch den menschlichen Körper zieht sich ein Netz aus Blutbahnen. Rote Blutkörperchen transportieren den Sauerstoff von unseren Lungen zu den Zellen, in die entlegensten Winkel des Körpers. Von dort kehren sie, jetzt mit CO2 geladen, zurück. Ohne die roten Blutkörperchen würde im Körper also rein gar nichts funktionieren.

Auch durch Europa zieht sich ein Netz. Es besteht aus Straßen und Autobahnen. Und die roten Blutkörperchen – in ihrer Form Autoreifen gar nicht mal so unähnlich – dieses Netzes sind natürlich die Lastkraftfahrer.

Und damit es nicht zum Infarkt kommt, machte sich Helga schon Mitte Mai wieder auf Fahrt und berichtet in ihrem Videotagebuch von ihren Eindrücken.

 

Schön, wieder da zu sein

Am Anfang der Fahrt überwiegt der Optimismus. Helga kennt die Strecke und hat sich im Kopf kleine Ziele gesteckt, auf die sie sich freuen kann. Das erste dieser Ziele, eine gemütliche Trattoria in Venzone, an der italienisch-österreichischen Grenze, erweist sich dann leider schon als Reinfall. Das Restaurant hat geschlossen – Corona.

Es ist ein Vorgeschmack auf den Rest der Fahrt. Aber die Enttäuschung hält sich noch in Grenzen, schließlich bietet eine echte italienische Pizza zum Mitnehmen eine angemessene Entschädigung.

Tristesse in Südfrankreich

Zehn verregnete Stunden Fahrt bringen Helga von Italien aus nach Südfrankreich. Das gedämpfte Licht eines Regentags, dabei den Scheibenwischer wie ein mahnender Zeigefinger vor der Nase, und sich dann auch noch in einer Gegend wiederfinden, die nicht unbedingt zu den Favoriten der Trucker gehört. Das kann selbst das sonnigste Gemüt bedrücken und Heimweh aufkommen lassen.

Es gibt Gegenden in Südfrankreich, Urlauber werden das Problem kennen, wo einem der Wagen regelrecht unterm Hintern weggeklaut werden kann.

Für Helga heißt es also: LKW abschließen, „Jause“ auftischen und das Beste draus machen.

Konfusion in Spanien

Am nächsten Tag schlägt das Wetter von einem Extrem ins andere. Zweiunddreißig Grad zeigt das Außenthermometer an. Hinzu kommen verwirrende Adressangaben, welche die Ablieferung der Ware mehr als nötig erschweren.

Dass die Ware nicht mit einem Piaggio Ape, sondern mit einem tonnenschweren „Blauen Blitz“ angeliefert wird, der sich nicht durch winzige Gassen und Seitenstraßen schlängeln kann, scheint nicht bis zum Vertragspartner durchgedrungen zu sein.

Allen Widrigkeiten zum Trotz verläuft die Ablieferung der Ware dann einigermaßen reibungslos.

Mit in Barcelona frisch geladener Ware beginnt am Mittwoch die Rückfahrt nach Österreich.


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Rückfahrt

Auf der Rückfahrt stellen sich die gleichen Probleme wie auf der Hinfahrt. In Spanien, Frankreich und Italien, die von der Pandemie zu diesem Zeitpunkt besonders schwer betroffen sind, ist nach wie vor alles dicht.

Dass es den Fahrern in einem harten Job damit noch schwerer gemacht wird, wurde offenbar nicht ausreichend bedacht. Weil für sie Aufmerksamkeit und Wachheit das vielleicht Wichtigste überhaupt sind, ist es eben mehr als nur ein kleiner Luxus, in einer Raststätte oder Tankstelle einen Kaffee zu bekommen – von der Verfügbarkeit sanitärer Anlagen ganz zu schweigen.

Wieder ist es kaum möglich, Gegenden zu vermeiden, in denen es um die Sicherheit der Fahrer und ihrer Ware nicht zum Besten bestellt ist. Wieder sorgt der Mangel an geeigneten Abstellplätzen dafür, dass Helga auch schon mal in einer Bucht am Straßenrand übernachten muss.

Wofür?

Sie lässt es sich nicht anmerken, aber der Frust wird im Laufe der Woche, und besonders als die Fahrt langsam zu Ende geht, immer größer. Es ist ein Frust, der nicht nur die Leser dieses Blogs aufmerken lassen sollte.

Wenn sich jemand wie sie, die zwanzig Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel hat und insgesamt ziemlich hartgesotten ist, die Sinnfrage stellt, dann liegt etwas im Argen.

Dass sie sich, auf Zwischenstation im italienischen Venzone, durch ein Essen mit Freunden und Kollegen dann wieder mit der Welt hat versöhnen lassen, spricht vor allem für ihre unerschütterlich positive Grundeinstellung. Aber leider nicht dafür, dass die Probleme verschwinden oder geringer werden.

Probleme, die durch Corona nicht entstanden, aber im Augenblick noch sichtbarer sind als sonst.

Systemrelevanz

„Talk is cheap“ ist eine Redewendung aus dem Englischen, für die es im Deutschen keine richtige Entsprechung gibt. Sie bedeutet in etwa, dass es leichter ist, über etwas zu reden, als wirklich etwas zu tun. Bezogen auf die LKW-Fahrer sollte man das Sprichwort allerdings eins zu eins ins Deutsche übersetzen. Also: Reden kostet nichts.

Und wen kostet Reden nichts? Funktionsträger in Politik und Unternehmen, die öffentlich die Wichtigkeit systemrelevanter Berufe erklären und den heldenhaften Einsatz der Beschäftigten in diesen Berufsfeldern überschwänglich loben – und dann rein gar nichts tun, um die Situation der „Helden“ zu verbessern, denn das würde ja was kosten.

Als in Europa das letzte Mal von Systemrelevanz gesprochen wurde, war es, um zu rechtfertigen, mit Steuergeldern Banken aus einem in krimineller Weise selbstverschuldeten Schlamassel zu retten. Es wurde nicht gezögert, Summen auszugeben, die die Vorstellungskraft jedes normalen Menschen übersteigen. Aber dieses Vorgehen war natürlich alternativlos, denn schließlich reden wir hier über Systemrelevanz.

Wenn Banker systemrelevant sind, dann sind es LKW-Fahrer erst recht. Trucker müssen nicht gerettet werden, aber dass ihre Arbeitssituation, Krise hin oder her, verbessert wird, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Und wenn es nur der Zugang zu Toiletten und Duschen oder das Gefühl ist, sich unterwegs einigermaßen sicher fühlen zu können. Die Spielzeuge der Finanzjongleure kann man nicht essen, die Lebensmittel, die wir jeden Tag im Supermarkt kaufen, schon. Allerdings nur solange es Menschen gibt, die sie uns liefern – Menschen wie Helga und ihre unermüdlichen Kollegen.

Warst Du während des Lockdowns auch über die Landesgrenzen hinaus unterwegs?

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